Starke Fäden

16.04.2025
Lebensraum
Wissenschaft
Alexandra Keller
Ganz wunderbare Frauenkräfte und die Handwerkskunst des Nähens haben die jüngere und ältere Geschichte Akida Mirkhalikovas miteinander verwoben. In Tirol, der Heimat des eher glücklosen Erfinders der Nähmaschine, fand sie ihr Glück. Als Näherin.

Die Nähmaschine ist schwer und alt und kompakt. Es ist wohl die totale Abwesenheit von Plastik, die einerseits überrascht und andererseits dazu animiert, sie betasten zu wollen. Verlockend ist die Patina, leicht wellig ist die metallene Oberfläche, mechanisch praktisch wirken die Rädchen und Hebel. Auch technisch weniger leuchtende Geister sind versucht, die Funktionsweise der Nähmaschine nachvollziehen zu wollen, deren Motor durch einen Tretantrieb gesteuert wird, der wiederum an weit ältere Maschinen erinnert. An die Nähtische etwa, die in den Stuben oder Küchen der Omas standen und irgendwann zu Beistelltischen umfunktioniert wurden.

„Diese Nähmaschine ist vielleicht 40 Jahre alt. Es ist wichtig, dass es eine Metallmaschine ist – die kann man hundertmal reparieren. Ich arbeite seit acht Jahren mit ihr und sie ist super“, sagt Akida Mirkhalikova und setzt das typische Rattern mit einem Druck auf’s antike Gaspedal in Gang. Diese Nähmaschine flüstert nicht. Der Ton ist klar und bestimmt, fast so, als hätte sie etwas zu erzählen. Sie erzählt von Akida, der gebürtigen Usbekin, der Nähmaschinen die Tür in ihre neue Heimat und Arbeitsheimat Tirol öffneten. Sie erzählt von der Evolution der Nähkunst, die die Menschheit seit der Steinzeit begleitet und die mit der Erfindung der Nähmaschine einen Höhepunkt erreichte, wurde damit doch die textile Welt revolutioniert. Und sie erzählt ein spannendes Kapitel des Tüftler-Landes Tirol, wo Josef Georg Madersperger (1768-1850), der Erfinder der Nähmaschine geboren wurde.

Akida Mirkahlikova, eine Wahltirolerin mit der Affinität zu einer ganz besonderen Tiroler Erfindung

In Tirol wurzeln zahlreiche zündende Ideen für technische Erfindungen, die das 19. und 20. Jahrhundert prägten und mit denen im globalen Wettlauf der cleveren Köpfe Meilensteine für die Moderne gesetzt wurden. Der Tischler und Instrumentenbauer Peter Mitterhofer (1822-1893) etwa hat 1867 sein Modell einer Schreibmaschine präsentiert, das die amerikanische Firma Remington 1869 erfolgreich auf den Markt brachte. Im Innsbrucker Stadtteil Wilten hatte Johann Kravogl (1823-1889) seinen Elektromotor gebaut, ein „Kraftrad“, das bei der Pariser Weltausstellung 1867 für Furore sorgte. Der Jenbacher Arzt Norbert Pfretzschner (1817-1905) hat nicht nur den Malzkaffee erfunden sondern mit der fotografischen Trockenplatte auch die Fotografie befeuert. Die Seilbahntechnik geht auf Luis Zuegg (1876-1955) zurück und Max Valier (1895-1930) hat Entscheidendes zur Entwicklung des Raketenmotors beigetragen und damit zur Entwicklung der Raumfahrt.

Im Kreis all dieser Tiroler Pioniere gilt der Erfinder der Nähmaschine als das verkannte Genie schlechthin. Mühsam per Hand gesetzte Nadelstiche durch eine Maschine zu ersetzen und um ein Vielfaches zu beschleunigen, war schließlich ein wichtiger Schritt im Vorfeld der industriellen Revolution. Madersperger hat dafür entscheidende Gedankensprünge gesetzt. Und doch ist dem Erfinder nie die Ehre zuteil geworden, die ihm gebührt. Vielleicht, weil andere – wie etwa die Amerikaner Elias Howe und Isaac Merrit Singer – ebenso und letztlich erfolgreicher an der Nähmaschine tüftelten.

Ja, vielleicht, war Josef Madersperger mehr ein technischer und weniger ein unternehmerischer Kopf. Fest steht, dass der gelernte Schneider und leidenschaftliche Tüftler nicht nur der Nähmaschine den revolutionären Wegebnete. Er gilt auch als Erfinder der Doppelstoffe und seine Tragik mit dem Patent Privilegium seiner k.k. Majestät – es erlosch, weil Madersperger sich die Gebühren nicht leisten konnte – führte sogar dazu, die rechtlichen Grundlagen des österreichischen Patentrechtes zu verändern. Spannend bleibt, dass der Tiroler bereits 1815 das Privilegium für seine Erfindung verliehen bekam und der Amerikaner Elias Howe seine erste Nähmaschine erst im Jahr 1847 patentieren ließ. Tja, immerhin erinnern ein Denkmal im Wiener Resselpark, ein paar nach ihm benannte Straßen in Österreichs Städten oder das wohl entzückendste Museum an den Glücklosen. Auf knapp 14 variantenreich genutzten Quadratmetern wird dem Sohn der Stadt in seinem Geburtshaus in der Kufsteiner Kinkstraße gedacht.

Ein Denkmal in Kufstein erinnert an den Erfinder Josef Madersperger, einem verkannten Genie. (Foto: TIBS, Anton Prock)

Gänzlich ohne dass Josef Madersperger davon profitieren konnte, eroberte die Nähmaschine die Welt und befeuerte nicht nur die große Textilproduktion, sondern erleichterte auch die tägliche Arbeit der nähenden Frauen dieser Erde. Überall und auch in Usbekistan. Das Land in Zentralasien, das an Kasachstan, Kirgisistan, Tadschikistan, Afghanistan und Turkmenistan grenzt, hat eine richtig schöne Textilgeschichte. Diese Textilgeschichte ist es auch, in der eine Tradition Usbekistan begründet ist, nämlich dass jede Frau eine gute Näherin sein sollte. „Bei uns müssen Frauen so früh wie möglich nähen lernen“, erzählt Akida. Ihre Mutter hatte sich nicht so sehr für dieses Handwerk erwärmen können: „Aber meine Oma hat viel genäht. Das ist ihre Geschichte.“ Und früh schon wurde es ein Teil von Akidas Geschichte, erinnert sie sich doch gut daran, als Kind die Handkurbel der Nähmaschine ihrer Großmutter zu drehen. „Wie das geht, war für mich als Kind eine technische Faszination. Oma sagte, langsamer bitte, schneller bitte, bitte stop, bitte zurück“, erweckt die Enkelin diese Zeit zum Leben.

Das ist Akidas Nähmaschine, mit der sie täglich arbeitet.

Der umfunktionierte Tretantrieb der Nähmaschine, mit der Akida heute arbeitet, verbindet diese Vergangenheit sanft ratternd mit der Gegenwart. Seit acht Jahren arbeitet Akida nun schon als Näherin bei Tyrler in Innsbruck, dem traditionsreichen Fachgeschäft für Bettwäsche und Heimtextilien, das 2025 sein 200-jähriges Bestehen feiert. Für Akida ist dieses Unternehmen, das zwischen Marktgraben und Seilergasse eine Art Passage bildet längst zu ihrer Tiroler Arbeitsheimat geworden.

Bettwäsche, Heimtextilien und noch mehr zu nähen und zu reparieren, ist ihr Job. Dass sie ihn gerne macht – mit dem guten Stolz einer guten Handwerkerin – ist auch in Windeseile spürbar. Um ihren Hals hängt ein gelbes Maßband – allzeit bereit, um seinen genauen Dienst zu versehen. „Das muss ich immer dabei haben“, sagt sie. An ihrer Hüfte hängt eine Ledertasche, die ein wenig an den Gürtelholster von Cowboys erinnert und Akidas Schere stets griffbereit hält.

Mitten in Innsbruck kann Akida ihrer beruflichen Leidenschaft nachgehen, dem Nähen.

2008 hatten Akida, ihr Mann und ihr Sohn Usbekistan verlassen müssen. Auf immer wirren Fluchtwegen kamen sie schließlich beziehungsweise schlussendlich in ein Innsbrucker Flüchtlingsheim. 2013 war das, in jenem Jahr, in dem das Innsbrucker Gestaltungsbüro Weiberwirtschaft in Kooperation mit der Grafikerin Anna Brunner die Initiative Wir sticken für den inneren Frieden ins Leben gerufen hatte. Gemeinsam mit geflüchteten Frauen an einem Tisch zu sitzen, zu sticken, sich dabei auszutauschen, Verbindungen zu knüpfen, einheimische Frauen kennenzulernen und auf ungezwungen menschliche Weise ein Netzwerk zu spannen, das jede theoretische Integrationsidee herzhaft sprengt, war die Idee hinter dem Projekt. Es funktioniert. Der innere Friede lässt sich ganz offensichtlich wirklich gemeinsam sticken. Akidas weitere Wege in Tirol zeigen das. Sie ist jedenfalls längst Stamm-Mitglied dieser internationalen Stick-Runden mit bestechend empathischer Dynamik. „Ja, seitdem sticken wir zusammen. Wir sind elf Frauen und es geht uns allen gleich“, sagt Akida – und sie erklärt: „Alle sind integriert, alle sind berufstätig. Wenn man einen Weg gezeigt bekommt, kann man sich gut entwickeln. Nur nicht zu Hause bleiben, zehn Kinder bekommen und nichts tun. In unserer Gruppe gibt es keine Frau, die so lebt.“

Gemeinsam sticken Flüchtlinge und Tiroler:innen für den inneren Frieden.

Neun Monate verbrachte Akida im Flüchtlingsheim, lernte dort auch ihre Deutschlehrerin kennen, zu der sie nach wie vor Kontakt hat, und selbst wenn sie festhält, dass ihr Deutsch nicht hundertprozentig sei, sind ihr Gesprächsfluss und ihr Wortschatz beeindruckend. Auf die „gute Zeit“ im Flüchtlingsheim sind nicht nur die zahlreichen Kontakte zurückzuführen, die sie knüpfen konnte. Dort wurden auch die Schienen für ihr neues berufliches Leben gelegt, das so entscheidend dafür war, in Tirol anzukommen. „Heidi hat mich an Frau Therese weiterempfohlen, für die ich zwei Jahre lang gearbeitet habe“, erzählt Akida.

Als Frau Therese bezeichnet sie Therese Fiegl, die Gründerin und Geschäftsinhaberin von TIROLER EDLES, Erfinderin der Bauernkiste und treibende Kraft hinter den Tiroler Edle– und Tiroler Reine-Produkten. Therese Fiegl, die wegen der besonderen Nachhaltigkeit ihrer Projekte 2021 für den Tirol Change Award der Lebensraum Tirol Holding nominiert war, hat ein ganz besonderes Geschick darin, Menschen zusammenzubringen, Talente zu entdecken und Dynamiken zu entfesseln. Und sie hat Akida ihren ersten Job als Näherin gegeben, bis, ja bis schräg gegenüber des TIROLER EDLES-Geschäftes in der Innsbrucker Seilergasse der Geschäftsführer des Tyrler, Karl Gostner, dringlich eine Näherin suchte. „Dann habe ich hier angefangen. Aber ich bin Frau Therese immer treu, repariere weiter Kleinigkeiten für sie und helfe aus. Sie hat mir die Arbeitswelt in Österreich geöffnet. Sie hat mich dahin begleitet, wo ich jetzt stehe. Ich bin sehr dankbar, sehr dankbar für sie“, adelt Akida die personifizierte Tiroler Edle mit ihren Worten.

Gelernte Lehrerin, jetzt Näherin aus Leidenschaft.

Näherin war nicht ihr Ursprungsberuf. Akida arbeitete als Lehrerin, bevor sie Usbekistan verließ. Doch der Tatsache, dass das Nähen seit ihrem zehnten Lebensjahr zu ihrem Leben gehört, verdankt sie die sanfte Landung in ihrem zweiten Leben – dem Nähen, der Nähmaschine, ganz wunderbaren Frauenkräften sowie den starken Fäden, die sie gesponnen haben. „Ich fühle mich zu Hause in Tirol“, sagt sie und legt fast liebevoll ihre Hand auf ihre Nähmaschine. Dass es ein Tiroler war, der die Nähmaschine erfunden hat, hat Akida – wie so viele – nicht gewusst und meint: „Das ist aber schön – und interessant.“ Stimmt.

Alexandra Keller

ist freie Journalistin und Autorin. Sie lebt und arbeitet in Innsbruck.